Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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Clemens Schwender

Überlegungen zu einem kommunikationstheoretischen Ansatz der Feldpost-Forschung

Während des Zweiten Weltkrieges sind nach Schätzungen 30 bis 40 Milliarden Feldpostsendungen zwischen Heimat und Front versendet worden. Im Krieg 1870/71 betrug die Anzahl der Feldpostsendungen 101 Millionen, im Ersten Weltkrieg schon 28,7 Milliarden. In Anbetracht dieser ungeheuren Menge an Datenmaterial aus dem Zweiten Weltkrieg ist es angebracht, sich auf die Suche nach diesen wertvollen Quellen zu machen. In den Archiven oder bei Privatsammlern lagern soweit bekannt einige tausend Briefe. Die verbleibende Menge gilt es aufzuspüren.

Feldpostbriefe sind Protokolle persönlicher Erfahrungen, sind Symptome für die Denkweise ihres Verfassers, geben Aufschluss über seine Kenntnis vom Kriegsgeschehen und geben Einblick in das Selbstverständnis des Chronisten. Dem Informationsstand des Schreibers stehen die realhistorischen Zusammenhänge gegenüber. Viele Briefe zeigen eine Ambivalenz, die sich in der Funktion des Dokuments begründet: mitunter sind die Schriftstücke Lebenszeichen und Abschiedsbrief zugleich. In jedem Fall sind es Augenzeugenberichte mit einem hohen Grad an Authentizität, denn ihre Aussagen sind nicht durch das heutige Wissen beeinflußt. Es sind keine Rückblicke, sondern originale und unverfälschte Stimmen einer Zeit, dessen Ausmaß an Radikalität bis heute nur lückenhaft untersucht worden ist. Sie reflektieren auch in sprachlicher Ausdrucksform und Wortwahl den Zeitgeist einer Generation.

Was macht die Briefe so wertvoll? Sie stellen die subjektive Wirklichkeit des Krieges dar. Sie zeigen, wie der Verfasser den Krieg - häufig in Unkenntnis militärischer Strategien - erlebt hat. Aus der Sicht des Einzelnen könnte die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehende Frage aufgegriffen werden, die Fritz Stern (Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels) gestellt und zu der er bemerkt hat, dass sie nicht verjähren würde: "Wie war es möglich?"

Funktionieren Parolen? Wenn ja, wie und unter welchen Umständen? Wie konnte es zu einer Entfesselung, Entgrenzung und scheinbaren Legitimierung brutaler Gewalt kommen? Wie verhält sie sich zum kollektiven Wahn und kollektiven Ängsten, beispielsweise an Rekruten, die ohne zureichende Ausbildung an die Front geschickt, buchstäblich "verheizt" worden sind und die an der Ostfront eine Lebenserwartung von zwei Wochen bis drei Monaten hatten? Letztenendes könnten wir aus den Briefen endlich erfahren, wer denn die Menschen waren, die gemeinhin in dem Begriff "die Wehrmacht" zusammengefasst werden.

Aber auch die Briefe an die Soldaten spiegeln den Kampf an der "Heimatfront". Luftangriffe, ein Leben auf Lebensmittelmarken, die Ungewissheit über den Verbleib von Vätern, Brüdern, Söhnen und Ehemännern und die Arbeitsverpflichtungen brachte enorme Belastungen in die zerrissenen Familien.

Schließlich geben die Briefe aus Lagern, Gefängnissen, Strafbataillonen und Kriegsgefangenschaft Aufschluss über die "Regeln" des Krieges.

Der Großteil der Feldpostforschung behandelt die Briefe als Teil einer historischen Betrachtung, bei der der Krieg als Ereignis im Vordergrund steht. Sieht man sich die Briefe jedoch genauer an, ist der Teil, der sich mit den Kriegsereignissen auseinandersetzt, marginal. Im Vordergrund stehen die persönlichen Kontakte und die persönliche Kommunikation. Der Krieg ist - medientheoretisch gesprochen - das Setting oder Framing, in dem die persönlichen Dinge verhandelt werden. Wie im Western die Hüte, die Pferde und die Schießeisen nur den Rahmen bilden für die immer gleichen Geschichten um Macht, um Männer und Frauen, um Eifersucht, Ehre, Ruhm und dem Verfolgen und Bestrafen von Betrügern, scheint der Krieg in den Briefen nur den Hintergrund darzustellen für die Behandlung persönlicher Belange.

In der Medienwissenschaft gibt es im Grunde nur eine Frage: "Wer vermittelt wem was über welchen Kanal mit welchem Effekt?" Das heißt, neben den Inhalten ist Medienabhängigkeit der Inhalte zu erörtern. Schreiben ist etwas anderes als Sprechen, die Adressaten der Kommunikation sind zu berücksichtigen und die Umstände der Kommunikationssituation beeinflussen ebenso die Botschaften.

Nimmt man diese Aspekte ernst und behandelt die Feldpost als ein Phänomen privater Kommunikation, muss das Auswirkungen auf die Fragestellungen haben:
  1. Wie wird Kommunikation aufrecht erhalten? Briefkommunikation - in ganz besonderem Maße gilt dies für Feldpost - ist fragil. Zu untersuchen ist hier, wie sich dies auf die Briefinhalte auswirkt. Immer wieder finden sich Beispiele in der Feldpost, wo die einzelnen Briefe nummeriert sind und genau Buch darüber geführt wird, welche Briefe angekommen sind und welche fehlen. Der Kontakt an sich scheint ein wesentlicher Wert darzustellen
    Das Schreiben von Briefen ist nicht nur ein Ersatz für den mündlichen Dialog. Durch die Phasenverschiebung und durch die Distanz werden eigene Strukturen gebildet.
    Kommunikation ist auf Distanz leichter abzubrechen. Vielleicht gibt es darum so wenig Streit in den Briefen. Konflikte werden sehr behutsam - wenn überhaupt - ausgetragen. Dies kann seinerseits übrigens zur Mythenbildung beitragen, die vor allem bei gefallenen Angehörigen festzustellen ist.
  2. Was berichten die Briefverfasser/innen über ihre Welt? Wirklichkeit - so drückt es Paul Watzlawick aus - ist keine Voraussetzung von Kommunikation, sondern deren Ergebnis. Wir kommunizieren, um uns über die wechselseitigen Wahrnehmungen zu versichern, wir synchronisieren Erfahrungen und teilen ästhetische Einschätzungen mit.
    In den Briefen gibt es vier Welten: Die der Heimat, die der Front, eine gemeinsame aus Erinnerungen und Zukunft und eine sozusagen medial-virtuelle. Der Soldat ist getrennt von der ersten, er stellt Fragen dazu. Über die zweite berichtet er als kompetenter Kenner. Die dritte muss konstruiert werden aus Erinnerungen und gemeinsamen Belangen ebenso wie über die Hoffnung und Zuversicht auf eine gemeinsame Zukunft. Die vierte wird konstruiert durch Referenzen auf gemeinsam Bekanntes. Zu diesem gemeinsam Bekannten gehören Medienereignisse wie Filme, Radiosendungen, Zeitungen oder Bücher. Hier spielt auch das hinein, was man als Propaganda bezeichnen kann, die sich bekanntlich nicht nur auf Reden und politische Statements beschränkte. Die Kommunikationspartner bedienen sich am kommunikativen Repertoire, das ihnen durch die Massenmedien zur Verfügung gestellt wird, um ihre eigene Kommunikation zu gestalten. Bezüge zu gemeinsamen Einschätzungen und Vorlieben sind gerade durch die Trennung von großer Bedeutung.
  3. Wie lassen sich Inhalte und deren Wahrheitsgehalt fassen? In einer Zeit, in der offizielle Nachrichten zensiert und gefiltert sind, entwickeln sich alternative Wege der Nachrichtenübermittlung. Das Gerede erfährt immer neue Nahrung und Gerüchte machen sich breit. Die Gerüchte handeln von den Hoffnungen und Befürchtungen. Eine Untersuchung der Legenden wird viel über das Innenleben offenbaren.
  4. Wie stellen sich die Personen in den Briefen dar? Selbstdarstellung ist eine wesentliche Komponente von Kommunikation. Wir präsentieren uns denen, die uns wichtig sind, als verlässliche Partner. Kommunikation ist auch Selbstreklame.
  5. Welche Rolle spielt der Adressat? Es ist offensichtlich, dass ein Briefschreiber an seine Eltern andere Dinge schreibt als an die Ehefrau oder Geliebte. Das Rollenbild des Adressaten bestimmt auch, was man nicht schreiben kann. Briefeschreiben kann zum öffentlichen Bekenntnis werden oder zum privaten Refugium des Widerstandes.
  6. Wie lässt sich die Medienabhängigkeit des Briefes betrachten? Die schriftliche Form kann sich in monologischen Traktaten äußern und damit dem Tagebuch nahe kommen oder dialogische Strukturen aufweisen und damit ein Gespräch imitieren. Je nachdem werden Selbstreflektion, Selbstbekenntnis und Selbstversicherung der eigenen Person und des eigenen Handelns dominieren oder Appelle, Handlungsaufforderungen und Fragen.
  7. Will man Feldpost medial einordnen, sollte man sie auch mit der Post von Abenteurern, Auswanderern oder schlicht auch der von Urlaubern vergleichen. Einige inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt es: Der Schreiber berichtet über sich (mehr über Erfolge als über Niederlagen), er stellt seine Eindrücke dar (die Rolle des Wetters ist unter diesem Aspekt noch nicht gewürdigt), er sendet Grüße, bezeugt seine Verbundenheit, versucht Sorgen zu mildern und erteilt Ratschläge. Immer geht es darum zu zeigen, dass man als Partner am Adressaten auch in Zukunft Interesse hat.

Mit den hier entwickelten Komplexen geht es nicht darum, mit historischen Ansätzen in Konkurrenz zu treten. Die hier genannten Themen können geschichtliche Herangehensweisen jedoch ergänzen. Sie sind interessant für Fragen nicht nur der historischen, sondern auch der systematischen Medien- und Kommunikationswissenschaft, die unabhängig vom aktuellen Ereignis nach den grundlegenden Mechanismen der Kommunikation sucht. Verbale Kommunikation ist eine anthropologische Konstante. Die Inhalte scheinen weniger bestimmt von allgemein politischen und ideologischen Debatten oder von faktischen Daten, sondern vielmehr von persönlichen Eindrücken und Einschätzungen über gemeinsame Bekannte, mithin von Klatsch und Tratsch geprägt zu sein.

Das Besondere und Außergewöhnliche an der Feldpost ist, dass hier private Kommunikation manifestiert und aufgehoben ist. Wir können unter Berücksichtigung der Bedingungen viel über Kommunikation überhaupt erfahren. Robin Dunbars These von der Funktion der Sprache im sozialen Grooming und im Klatsch und Tratsch wären ebenso zu überprüfen, wie die Überlegungen der Evolutionspsychologie zur sozialen Funktion unseres Gehirns. Kommunikation dient der Kooperation in Gruppen, das heißt man ordnet sich zu und man grenzt sich ab, man positioniert sich und andere. All dies ist in den Briefen präsent.

Dunbar, Robin: Klatsch und Tratsch. Wie der Mensch zur Sprache fand, München 1998
Barkow, Jerome, Leda Cosmides und John Tooby (Hrsg.): The adapted Mind. Evolutionary Psychology and the Evolution of Culture, Oxford 1992
Crawford, Charles und Dennis L. Krebs (Hrsg.): Handbook of Evolutionary Psychology. Ideas, Issues, and Applications, Mahwah und London 1998
Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, Berlin, Heidelberg und New York 1978, darin besonders Kapitel 11: "Meme, die neuen Replikatoren"
Kapferer, Jean-Noël: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt, Berlin 1997