Reihe: Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen. Bd. 11
Herausgegeben von Eva Hahn und Hans Henning Hahn
Erscheinungsjahr: 2013
Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien
313 S., 21 s/w Abb.
ISBN 978-3-631-64255-9 geb. (Hardcover)
ISBN 978-3-653-03009-9 (eBook)
€ 54.95
Die Gefahr, dass man von der Feldpost-Zensur für seine Meinung zur Verantwortung gezogen wird, war überschaubar. Bei einem Aufkommen von 40 Milliarden Briefen war die Chance gering, in die Fänge des Sicherheitsdienstes zu gelangen. Dass einem die Äußerung von nicht-konformen Meinungen in der Zeit des Faschismus allerdings dennoch gefährlich werden konnte, ist bekannt. Bis hin zu Todesurteile wurden in der Endphase des Krieges für defaitistische Äußerungen verhängt und ausgeführt. Dass einem diese Meinung - fixiert auf Briefpapier - aber auch das Leben retten kann, ist eine absolute Ausnahme. Als Kurt Nelhiebel bei der Heimkehr aus Krieg und Gefangenschaft im Mai 1945 tschechischen Partisanen in die Hände fiel, konnten sie seine antifaschistische Haltung belegen.
Der Briefwechsel zwischen dem sudetendeutschen Antifaschisten Eugen Nelhiebel und seinem damals 17jährigen Sohn Kurt beginnt mit dessen Einberufung zur Wehrmacht im Dezember 1944 und endet im Mai 1945. Die Briefe des Vaters liegen in Original-Durchschrift vor, einer davon im Original. Es ist jener Brief, der dem Sohn das Leben gerettet hat. Die Briefe des Sohnes liegen im Original vor. So steht der Forschung der seltene Fall zur Verfügung, wo systemkritische Äußerungen größeren Umfangs in der Zeit des Nationalsozialismus fixiert sind.
Die Briefe stehen nicht im Zentrum des Buches, aber sehr prominent am Anfang. Im "Wirrwarr der Meinungen", die um ihn herum herrschten, habe er keinen leichten Stand, schrieb Eugen Nelhiebel am 25. März 1945 seinem zur Wehrmacht eingezogenen Sohn Kurt. Auch in der nordböhmischen Heimat der beiden war die Kluft zwischen der Goebbelsschen Propaganda und den realen Erfahrungen des Einzelnen unübersehbar geworden und das Überleben für Antifaschisten gefährdeter denn je. Die hier zum ersten Mal veröffentlichte Korrespondenz zwischen dem Vater und seinem knapp 18-jährigen Sohn bezeugt das auf bemerkenswerte Weise. Kurts Tagebuch dokumentiert die Situation nach Kriegsende und die unvermeidliche Übersiedlung nach Westdeutschland. Die einmaligen Texte beleuchten ein historisches Geschehen, das immer noch von NS-Propaganda und völkischem Denken umschattet ist. Weitere Dokumente und Essays Kurt Nelhiebels behandeln das schwierige Weiterleben antifaschistischer Traditionen. Durch ihre ungewöhnliche Klarsicht heben sie sich deutlich ab vom gängigen Wirrwarr der Meinungen.
So schreibt der Vater Dinge, die man getrost als defaitistisch interpretieren könnte:
"Ich fuhr heute mit Soldaten herein. Fazit der Unterhaltung: Schluss mit dem Krieg, bevor noch mehr Heimatgebiet der Vernichtung preisgegeben wird. Wenn ich die vorgegangenen russischen Offensiven mit der gegenwärtigen vergleiche, muss ich gestehen, dass ich eine derartige Wucht kaum erwartet habe. Sie ist ein Beweis, dass Stalin tatsächlich eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeiführen will. Wer wird am 30. Jänner zum Tag der Machtergreifung sprechen? Es sprach an diesem Tag immer der Führer. 1944 sagte er bekanntlich, dass es in diesem Krieg nur einen Sieger geben kann, Deutschland oder Sowjetrussland. In seiner Neujahrsrede sagte er, dass wir siegen werden. Ich habe das Gefühl, dass im Stillen die Möglichkeit eines Kompromissfriedens sondiert wird. Vielleicht bekommen wir etwas andeutungsweise am 30. Jänner zu hören. Heute erweist sich, dass der Krieg gegen Russland ein Fehler war. Man hätte wie Bismarck denken sollen: keinen Kampf mit dem Osten. Nun hat es keinen Sinn, nervös zu werden. Nervosität ist die Mutter aller Fehlschlüsse und Fehlschlüsse gebären das Chaos. Der Krieg wurde total organisiert, total gefuhrt. Er müsste auch total in einen Ausweg münden. Nur keinen Bürgerkrieg, den Krieg Bruder gegen Bruder. (Nelhiebel, S. 44)
Am 26.1.45 schreibt Kurt an den Vater:
"Lieber Vater!
Erst heute komme ich wieder dazu, Dir zu schreiben. Man gestattet uns hier praktisch keine freie Minute. Es ist schwer, dies alles zu ertragen. Das Essen ist auch nicht so wie es sein sollte.
Mit Bangen verfolge ich den Wehrmachtsbericht. Eine Stadt nach der anderen (fällt). Viele Kameraden sind schon ohne Heimat. Hoffentlich neigt sich jetzt der Krieg seinem Ende zu. Uns steht die Sch - bis zur Kragenbinde.
Meiner Meinung nach ist der Krieg schon entschieden. Aber die Welt soll uns ja bewundern. Wir sollen ihr zeigen, wie ein Volk zu kämpfen und zu sterben versteht (Goebbels). Das bedeutet sinnlos Mehrung der unendlich vielen Opfer. Wozu? Wir wollen leben und arbeiten. Zerstörtes wieder aufbauen.
Wie ist denn in diesen Tagen die Stimmung zu Hause? Mich interessiert das sehr. Können wir den Russen aufhalten? Wo? Er überrennt uns mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Breslau ist Frontstadt. Wer hätte das vor einer Woche noch vermutet? Der Russe hat gerüstet. Ich bewundere im Stillen die russischen Generäle. Sie haben einen kühnen Plan entworfen und auch ausgeführt. (Nelhiebel, S. 49)
Und sehr deutlich formuliert der Vater in seinem Brief vom 22.3.1945, was der denkt:
Du fragst nach Neuigkeiten, lieber Junge. Was soll ich Dir schon schreiben! Was ist noch erlaubt und fällt nicht unter die Gesetzgebung des Standgerichts? Man ist ein Sklave seiner selbst.
Für heute Abend acht Uhr bin ich zur NSDAP Jungbuch vorgeladen. "Geladen" kann ich wohl nicht gut sagen. Eine Einladung, scheint mir, müsste anders verfasst sein, als meine "Vorladung". Ich werde zwar "ersucht", unbedingt zu erscheinen. Das "unbedingt" hebt das "Ersuchen" auf Die Menschen scheinen weniger zu denken als gefühlsmäßig zu handeln. Sonst kämen sie darauf, dass das entweder kein guter Stil oder "diplomatischer" Stil ist. Warum ich kommen soll, wird in der Aufforderung nicht gesagt. Ist auch so eine Art, den Menschen unvorbereitet vor vorbereitete Situationen zu stellen. Da merkst du gleich die "Gleichheit" zwischen dem Befehl und dem Gehorsam.
Zwischen diesen Begriffen gibt es keine Gleichung. Das wäre demokratisch. Man pfeift und du hast zu rennen. Basta! Wenn es dir nicht passt: adieu schöne Welt. Wir sind ihrer ohnedies zuviel auf deutschem Raum, also gibt es mehrere Lösungen fur die Probleme der Überbevölkerung. Nun werde ich also hingehen, weil ich just der Schwächere in diesem "Spiel der Kräfte" bin. Der Schwächere soll immer des Schutzes des Stärkeren sicher sein, sagte die christliche Moral. Doch was gilt heute schon als "Moral". Morgen, mein Junge, kann ich Dir schreiben, um was es ging. (Nelhiebel, S. 83)
Diese Stellen zeigen das Spektrum der Gedanken jener aus den Fugen geratenen Zeit, die sich keinesfalls auf ein Volk von systemkonformen Nachläufern und Überzeugungstätern reduzieren lässt. Das Buch "Im Wirrwarr der Meinungen" ist Beleg dafür, dass es die Formen widerständiger Kommunikation gab, die sich nicht nur in konspiraten Treffen und Gesprächen, sondern auch in der schriftlich fixierten Kommunikation zwischen Vater und Sohn darstellt. Die Spannweite der Haltungen, Meinungen und Taten ist vielfältiger, als man es sich heute vorstellen kann.
Der Inhalt des Buches befasst sich auch mit der Nachkriegszeit und weiteren Zeugnissen widerspenstigen Denkens. Doch der hier gesammelte Briefwechsel zwischen Eugen und Kurt Nelhiebel zwischen 1944 und 1945 ist im Kontext der Feldpostforschung hervorzuheben.
Clemens Schwender, 2013