Göttingen: Wallstein, 2018,
340 pp., Ill.,
24,90 €
512 Seiten
ISBN 978-3-8353-3191-4
Die Schlacht um Stalingrad 1942/43 war der markante Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Von da an musste der politischen und militärischen Führung des Dritten Reiches klar sein, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Dabei wurde die Eroberung Stalingrads zuvor durch die Propaganda zum Schicksalsereignis erklärt. Die Schlacht war Menetekel mit symbolischer Kraft, die bis heute nachwirkt. Mehr als 250.000 Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeter wurden eingekesselt, über 100.000 kamen in russische Gefangenschaft und von denen kamen etwa 6.000 zum Teil erst nach einem Jahrzehnt wieder zurück in ihre Heimatländer. Die Opferzahlen auf Seiten der Sowjetunion waren noch größer. Man geht von 1 Million Soldaten aus und einer unbekannten Zahl an Zivilisten, die in der Stadt zu Tode kamen. Die Dimensionen der Schlacht und die Zahlen sind so imponierend, dass man die Individuen dahinter nicht wahrnimmt.
Junge Soldaten standen sich im Kampf gegenüber. Jens Ebert zeichnet den Weg nach Stalingrad und nimmt dabei die jungen Soldaten in den Fokus. Er begann schon bei der nationalsozialistischen Propaganda und den Idealen der faschistischen Erziehung. So forderte Hitler in einer Rede zum Reichsparteitag 1935 bereits die soldatischen Tugenden von Stärke gegenüber anderen und Härte gegen sich selbst. Man könnte einwenden, dass die Erzieherinnen und Erzieher diese Rede gehört haben mussten, damit sie eine Wirkung entfalten konnte. Doch sie steht exemplarisch für das gesamte System der Propaganda, das umfassend alle Publikationen kontrollierte und die Richtung vorgab. Beginnend mit dem Jungvolk griff der Staat in die ideologische Bildung der Kinder ein. Diese Rede und andere Dokumente im Wortlaut finden sich unter der Überschrift "Von der Schulbank nach Stalingrad". Dies ist eine Anspielung auf die Indoktrination wie auf das Alter der Jungen, die keine 10 Jahre später in Stalingrad eingesetzt werden konnten.
Die folgenden Kapitel stellen die Briefe dieser jungen Soldaten vor. Sie sind jeweils ohne Kürzungen und Änderungen abgedruckt. Vorangestellt sind Überlegungen zu den Inhalten und Hinweise zu deren Interpretation, die den Leserinnen und Lesern überlassen bleibt. Nach der chronologischen Sammlung wird Helmut Gründlich exemplarisch herausgegriffen und dessen Biografie so detailliert und authentisch wie möglich rekonstruiert. Dazu gehören auch die 45 erhaltenen Briefe, die vor allem an die Mutter gerichtet sind. Man kann sich beim Lesen fragen, warum so wenig über die Gefahren des Krieges berichtet wird. Jens Ebert erkennt dies als Muster, das sich auch bei anderen Schreibern wiederholt. Offenbar ist das Festhalten am sozialen Kontext wichtiger als über die Gründe nachzudenken, warum er in den Weitern Russlands gegen Soldaten kämpft, die genauso alt sind wie er. Unter Ausblendung der realen Gefahren betont man die Kontakte zur Heimat und die Briefe bilden eine Art Gegenwelt. Nicht die Schrecken des Krieges sind in den Briefen zu finden, sondern das Festhalten an den Kontakten in die Heimat, was auch der Stabilisierung der Persönlichkeit im Ausnahmezustand dient. Mentalitätsgeschichtlich ist dies eine der Funktionen des Schreibens. Man erfährt als Leserin oder Leser wenig über den Krieg, aber sehr viel darüber, was die Betroffenen über das denken, was sie erleben.
Im anschließenden Kapitel geht es auf "die andere Seite der Front". Nun kommen junge russische Soldaten zu Wort. Auch hier findet sich wieder eine Einleitung in die sozialen und historischen Hintergründe der Sowjetunion seit 1900, die die Wahrnehmungen und das Erleben der Jugend prägten. Statt eines Einzelschicksals finden sich im Anschluss Briefe von und an exilierte Deutsche, die in der Roten Armee gedient haben.
Beeindruckend ist, dass hier Texte gesammelt sind von Freund und Feind. Denkbar ist, dass die Schreiber nur wenige Meter voneinander entfernt lagen oder standen, unter derselben Kälte litten und ebenso den Läusen ausgesetzt waren. Unter anderen Umständen hätten sie vielleicht miteinander getrunken und gefeiert und sie hätten sich viel zu erzählen von ihrem Leben und ihren Erfahrungen. Doch der Blick auf den anderen über Kimme und Korn verhinderte all dies. Es folgt ein Kapitel mit publizierten Aufarbeitungen der Schlacht besonderer Art. Sowohl in der Bundesrepublik und der DDR als auch in der Sowjetunion berichteten zahlreiche Bücher über persönliche Erinnerungen an die Schlacht. Allein in der UdSSR lassen sich über 5.000 Veröffentlichungen zählen. Darüber hinaus gab es Romane, die das Ereignis literarisch aufarbeiteten. Auch diese gehen häufig auf eigenes Erleben zurück. Das zeigt, dass die Schlacht um Stalingrad zu den zentralen Ereignissen gehört, die für das Selbstverständnis der Nationen prägend waren und bis heute sind.
"Junge deutsche und sowjetische Soldaten in Stalingrad" legt Befunde aus Sicht eines Historikers vor, analysiert und vergleicht. Dabei erkennt man gleichzeitig eine literarische Dimension, die Einblicke in Erleben und Empfinden von Individuen bietet. Die Textsammlung stellt nicht zufällig Kriegsbriefe, historische Dokumente, Berichte und literarische Erinnerungen zusammen. Man kann sie lesen als Betrachtungen desselben Gegenstandes aus unterschiedlichen Perspektiven. Geschichts- und Tagebuch liegen aufgeschlagen nebeneinander. Man lernt die jungen Briefschreiber nicht nur kennen, man kann auch miterleben, wie sie geworden sind.
Das Buch von Jens Ebert ist wichtig, da es die individuellen Erfahrungen der Betroffenen deutlich macht. Die jungen deutsche und sowjetische Soldaten kommen selbst unverfälscht zu Wort. Das reichhaltige Material, das zur Interpretation der Briefe und zum Verständnis der Zeit gesammelt sind, geben geradezu intime Einblicke in das Seelenleben der Soldaten auf beiden Seiten. Wer sich mit der Schlacht um Stalingrad befasst, erhält Einblicke in eine bislang kaum zugängliche Dimension der Berichte, die weit über die Fakten hinausgehen, da die zu Wort kommen, die ihr Leben verloren haben oder an Leib und Seele beschädigt überlebten in einem der folgenreichsten und schrecklichsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts.
Clemens Schwender In: Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hgg). "Krieg in Comic, Graphic Novel und Literatur" (Jahrbuch Krieg und Literatur/War and Literature XXIV/2018). Göttingen: V&R unipress, 2018.