Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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Michael Schräder

Feldpostbriefe*

Im Jahr 1991 hat mir einer meiner Brüder einen Karton mit ungefähr 400 Briefen übergeben, die mein Vater und meine Mutter sich in der Zeit von 1940 bis 1945 geschrieben hatten; im damaligen Sprachgebrauch „Feldpostbriefe". Gemeinsam mit meiner Frau und meinen Kindern wurden diese Briefe chronologisch geordnet, in Klarsichthüllen gesteckt, und ich begann in der Folgezeit, in den Briefen zu lesen. Da war für mich sehr mühsam, da sie in Sütterlinschrift geschrieben sind. Dabei merkte ich, wie sich das „Dunkel" meines Wissens über die Vergangenheit immer mehr lichtete und deutlich wurde, was sich damals im einzelnen ereignet hatte. Dieses war für mich ein schwieriger und schmerzhafter Prozeß, die Wahrheit über meine Eltern damals zu erkennen und anzunehmen.

Aus den Briefen wurde deutlich, wie schwer es meine Mutter gehabt hatte, diese Zeit mit vier kleinen Kindern zu überstehen. Vielfach beschreibt sie in den Briefen an ihren Mann schreckliche Nächte im Luftschutzkeller, den Mangel an Schlaf, die Schwierigkeiten, an genügend Lebensmittel für ihre Familie zu kommen. Sie war eine damals eine junge Frau und fühlte sich offensichtlich sehr verlassen, als ihr Mann im Krieg war. Immer wieder fuhr sie deswegen zu Verwandten, gab auch ihre Kinder zu verschiedenen Familien. Einmal war sie so erschöpft und verzweifelt, daß sie alle Kinder wegbrachte und zu Freunden nach Ostdeutschland fuhr, die nicht so sehr unter dem Luftkrieg zu leiden hatten.

In ihren Briefen, die sie in der Zeit geschrieben hatte, als sie mit mir schwanger war, war des öfteren vom „Fliegerlein" die Rede. Nach einiger Lektüre begriff ich, daß das ein Kosename für mich, den Ungeborenen, war, das Kind des Vaters, der „Flieger" war, wie es auf den Umschlägen der Feldpostbriefe stand. Das Bedauern meiner Mutter in den späteren Briefen an meinen Vater: „Es ist so schade, daß Du nicht sehen und miterleben kannst, wie der Kleine heranwächst!" macht mir noch einmal klar, wie „vaterlos" diese Jahre der Kindheit gewesen sind, und wie eng meine Mutter und ich lange Zeit aufeinander angewiesen waren. Für meine Mutter ist es eine Zeit gewesen, in der sie um das existenzielle Überleben ihrer Kinder kämpfen mußte, und in der sie sich nicht nur alleingelassen, sondern auch augenscheinlich überfordert gefühlt hat.

Ganz anders das Bild des Vaters, wie es sich beim Lesen der Briefe ergab; ihm scheint es bei der „Großdeutschen Wehrmacht" gut gegangen zu sein. Die Beschreibungen von seinen Aufenthalten in Norwegen und Finnland lesen sich wie die eines abwechslungsreichen Camping-Urlaubs. Da ist vom Baden im Fjord, Lachsessen und vorbildlicher männlicher Kameradschaft die Rede. Mehrfach war er zu irgendwelchen Lehrgängen irgendwo in Europa abkommandiert, so in Paris, Amsterdam und anderen Städten. Er machte Karriere als Unteroffizier der Luftwaffe und erhält auf den Flugplätzen zunehmend wichtigere Aufgaben, was ihm, der bis dahin beruflich nicht erfolgreich gewesen war, offensichtlich viel bedeutet hat. Viele Passagen in den Briefen zeigen ihn darin überzeugten Nationalsozialisten mit allen Attitüden deutscher Überheblichkeit. Ab Januar 1945 werden seine Lageeinschätzungen vorsichtiger, und er beginnt von einem „Neuanfang in der Heimat" zu sprechen. Aus einigen Briefen ist auch zu ersehen, daß mein Vater mit anderen Luftwaffensoldaten zu Partisanenbekämpfungsaktionen an der Grenze zu Rußland - vermutlich an der sogenannten Murmansk-Front - eingesetzt worden ist. Die müssen sehr grausam gewesen sein, denn in seinen Briefen ist von „Blutbädern" die Rede.

Aus heutiger Sicht ist vor zehn Jahren die Spurensuche mit einer tiefen Erschütterung geendet, mit der ich zuvor nicht gerechnet hatte. Vor allem machte mir die Erkenntnis zu schaffen, daß mein Vater in viel höherem Maße, als dies in der Nachkriegszeit zugegeben wurde, ein überzeugter und begeisterter Nationalsozialist, Karrieresoldat und Partisanenjäger gewesen ist. Das jahrzehntelang gepflegte Vaterbild: Soldat - aber nicht schuldig geworden / der mußte zwar in den Krieg - hat aber nie direkt an der Front gekämpft / der mußte zwar mitmachen - aber ein Nazi war er nicht; es war endgültig zerbrochen. Die Wahrheit in der familieninternen Überlieferung war in den Jahren nach dem Kriege verzerrt und verfälscht worden. Ähnlich verhielt es sich in Bezug auf das Bild meiner Mutter; sie war nicht nur die Tapfere gewesen, als welche sie in den Familienerzählungen der Nachkriegszeit hingestellt worden war; sie ist voller Ängste, schwach und mitunter verzweifelt gewesen, - und all das war angesichts der schwierigen Verhältnisse der Kriegszeit sehr verständlich - aber Jahrzehnte war das Bild von der „tapferen" Soldatenfrau gepflegt worden. Hat vielleicht hinter meinen aus eigenem Antrieb bereits in der Nachkriegszeit begonnenen Recherchen eine „dunkle Ahnung" und ein berechtigter Zweifel an den Familien-„Mythen" gestanden? War also meine Herkunftsfamilie gar nicht besser als andere, die in der Nachkriegszeit durch Verschweigen und Umdeuten die Vergangenheit zu verdrängen suchten?

 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors Michael Schräder. Die Passage ist ein Kapitel in seinem Aufsatz "Aufgewachsen in den Spuren des 'Dritten Reiches' - Kindheit und Identitätsfindung in der Kriegs- und Nachkriegszeit", in: Malwitz-Schütte, Magdalene und Michael Schräder (Hrsg.): ZeitZeugen. Autobiographische Zeitzeugnisse zur Geschichte in Deutschland seit Beginn des Zweiten Weltkrieges, Universität Bielefeld - Kontaktstelle Wissenschaftliche Weiterbildung, Bielefeld 2001